JEDES VORLESEN IST GUT

Veröffentlicht im September 2023 im „Eselsohr“: Fachzeitschrift für Kinder- und Jugendliteratur in der Rubrik: „Glückssache Lesungen“

„Da war heute eine Autorin. Sie hat uns ihr Alter verraten. Wir haben von ihrem Verdienst erfahren. Und dann hat sie sich auch mal auf den Tisch gestellt. Sie hat das Buch geknickt und auf allen Buchseiten hat sie viele Zeichen gemalt. Wir haben alle zusammen gezappelt. Und sie hat uns eine tolle Geschichte vorgelesen. Dazu hat sie die Bilder groß gezeigt, manchmal auch Wörter. Wir haben laut im Chor gelesen und auch sonst hat sie lustige Sprechspiele mit der Geschichte gemacht. Also, die Geschichte ging so…“

So könnte die Antwort eines Kindes auf die Frage sein, wie es denn in der Schule war.

Schon seit meinem ersten Buch „Fußball und sonst gar nichts!“ (Carlsen) war es für mich bei jedem der weiteren 51 Bücher ein besonderer Genuss: Das Entwerfen spezifischer Lesungskonzepte, jeweils angepasst an Anlass, Thema und Zielgruppe. Der Name meiner Lesungs-Veranstaltungen für Kinder ist Programm: „Lesungen für Ohren und Beine“. Ebenso der Titel meiner Workshops für Jugendliche und Erwachsene: „In die Ohren in den Sinn: Vorlesetipps mit Sofortwirkung“

Ein Stuhl, ein Tisch, eine Leselampe für die Autorin, Sitzkissen oder Sitzteppiche für das Publikum. „Das ist für die Kinder kein Problem, das müssen sie aushalten“, war 2008, in meinen Anfängen als Lesereisende sowohl unter AutorInnen als auch unter VeranstalterInnen oder LehrerInnen eine häufige Aussage. Dem widersprach ich von Beginn an vehement. Darum bat ich schon damals um einen Stuhl für jedes Kind und reiste mit meinem Beamer durch die Lande. Aus der Überzeugung, dass vorliegende Illustrationen angemessen präsentiert werden sollten. Das gilt per Fotos oder Mini-Videos auch für Hintergrundinformationen zur Entstehung der Geschichte.

Seither haben sich nicht nur die technischen Voraussetzungen vor Ort verändert.  Denn Interaktion ist inzwischen bei derlei Veranstaltungen ausdrücklich gewünscht. Nicht nur Autorinnen und Autoren realisieren, dass Vorlesen einen Rollenwechsel von der Autorin zur Präsentatorin bedeutet. Auch vorlesende BibliothekarInnen, LehrerInnen, ErzieherInnen, PädagogInnen, LesepatInnen und alle anderen.

Machen wir unserem Publikum das Zuhören so leicht wie möglich. Die Regel „Langsam-laut-und-deutlich“ hilft nicht. Im Gegenteil: Variieren wir das Tempo, die Lautstärke und Artikulation. Setzen wir Sprechzeichen in unsere Textausschnitte. Bemühen wir uns auf diese Weise um hörfreundliches Vorlesen. Vielleicht stutzen Sie bei dem Begriff hörfreundlich?

Hautfreundliches Spülmittel, kundenfreundlichen Service und gastfreundliche Menschen sind Ihnen als Wortpaarungen bekannt. Aber „hörfreundlich vorlesen“?

Wann haben Sie zuletzt darüber nachgedacht?  Vielleicht lesen Sie aus dem Bauch heraus? Vor Ihrem Kollegium und Ihren GeschäftspartnerInnen klappt es auch irgendwie.

Suchmaschinen lotsen bei dem Begriff hörfreundlich direkt zur Hörakustik, ein Fachbereich, der u.a. allerlei technische Hilfsmittel für Menschen mit eingeschränktem Hörvermögen anbietet.

Hörbezogenes Vorlesen setzt stärkere Interpretation voraus und erzielt damit bessere Verständlichkeit. Das bedeutet auch gezielte Vorbereitung, Publikumsfokus, Gewichtung und Präsenz.

Es geht um den Einsatz von sprecherischen Stilmitteln wie Tonfall, Pause, Betonung, Lautstärke und Tempo.

Jedes Vorlesen ist gut. Das steht außer Frage. Schauen wir trotzdem möglichst tiefer in den Text, untersuchen wir den Text nach Gelegenheiten ihn hörfreundlich in die Ohren des Kindes zu bringen. Planen wir die Begegnung zwischen unserer Geschichte und dem Kind so angenehm wie möglich.

Nutzen wir besonders für Kinder außerdem Methoden der Verständnisvorbereitung, indem wir z.B. einzelne Schlüsselwörter formatfüllend zur Unterstützung projizieren, einen Sprechchor führen, der den Namen des Buches oder der Hauptfiguren liest. Setzen wir Medien und deren Vielfalt dramaturgisch klug ein, immer im Sinne und als Unterstützung für den Transfer der Geschichte. Gestalten wir Zuhör-Pausen. Mit kollektiven Bewegungsspielen wie Choreographien mit Einsatz von Body Percussion. Machen wir die Begegnung zu einem gemeinsamen Erlebnis mit dem Thema und den Figuren. Ich höre den Einwand einiger: Was hat das alles noch mit einer Lesung zu tun?

Zumindest gibt es so gute Chancen, dass die Geschichte unser Publikum erreicht. Und berührt.

Irene Margil

(Autorin, Leseanimatorin, Lesungscoach)

www.irenemargil.de   /.  www.lesungscoaching.de



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