Interview mit Manfred Mai von Albert Hoffmann für Antolin.de

“Und das war zum ersten Mal, dass ich das Gefühl hatte, in einem Buch steht etwas, das mit mir zu tun hat.”

Interview mit Manfred Mai

Antolin

Herr Mai, ich darf Ihnen eine nette Nachricht übermitteln: Sie sind eine gewaltige Größe in Antolin. Am heutigen Tag (28.09.2024) finden sich zu Ihren Büchern, die zur Kinder- und Jugendliteratur zählen, unglaubliche 683 Quiz in Antolin. Vermutlich sind Sie diesbezüglich die Nummer Eins. Nicht einmal Astrid Lindgren kann hier mithalten. Haben Sie das gewusst?

Manfred Mai

Ich habe schon gewusst, dass ich mit meinen zahlreichen Büchern in Antolin ganz gut vertreten bin. Bei Lesungen bekomme ich immer wieder Fragen, die sich irgendwie auf meine Bücher in Antolin beziehen. Natürlich schaute ich, neugierig wie ich bin, ab und zu mal in Antolin rein – und las erstaunt die Zahl an Quiz zu meinen Büchern. Aber mir war nicht klar, ob das nun viel ist oder wenig.

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Was ebenso auffallend ist: die Themenvielfalt ihrer Bücher, die Offenheit für nahezu alle Altersstufen im Bereich der Kinder – und Jugendliteratur. Sie geht von den “Warum-Geschichten zu Kinderfragen” über Fußballbücher bis hin zu den fünf Weltreligionen. Nahezu unglaublich!

Manfred Mai

Das hat sich so ergeben, das Leben um mich herum war und ist vielfältig und spannend. Ich habe als junger Lehrer angefangen zu schreiben. Erst kurze Geschichten, auch Gedichte, dann kamen erst die ganzen Bücher.

So ein Lehrerleben ist ja nicht so ganz einfach. Und weil dies so war, habe ich versucht, meine Erlebnisse schreibend zu verarbeiten. Für mich war das Schreiben zu Beginn eher therapeutisch. Viele von meinen ersten Texten habe ich auch nie veröffentlicht. Das waren wirklich Texte nur für mich, bei denen ich mir Dinge von der Seele geschrieben habe.

Zu Kinderbüchern bin ich erst gekommen, als wir selber Kinder hatten. Und hierbei kam es auch zu dieser Vielfalt an Themen. Ich erlebe die Welt bei mir zu Hause und auch darüber hinaus mit offenen Augen und großem Interesse.

Antolin

Woher kommt Ihr unendlicher Fleiß? Ich denke hier vor allem an Bücher wie “Deutsche Geschichte”, “Weltgeschichte”, “Europäische Geschichte”, “Menschheits-Utopien” oder “Geschichte der deutschen Literatur” – alles Bücher, die eine ungeheure Recherchearbeit voraussetzen.

Manfred Mai

Ohne mir auf die Schulter klopfen zu wollen, wage ich schon zu sagen, dass ich fleißig bin. War ich eigentlich schon immer. Unsere Enkel allerdings verändern momentan mein Arbeitstempo ein wenig. Sie sind mehr als wichtig für mich.

Ich bin dankbar, dass ich das so machen kann. Vor fünf Jahren ging es mit gesundheitlich nicht ganz so gut. Es war nicht klar, ob ich einen Riss in der Aorta überstehe. Seit dieser Zeit bin ich noch dankbarer und lebe noch bewusster.

Aber ich habe natürlich vorher auch schon nicht einfach in den Tag hinein gelebt. Auf die Frage, wie ich so viele Bücher schreiben könne, habe ich einer Kollegin aus Spaß mal geantwortet: “Wenn du dich morgens noch dreimal im Bett umdrehst, habe ich schon zweimal gefrühstückt.”

Antolin

Lassen Sie mich noch einmal auf Ihre “Geschichtsbücher” (“Deutsche Geschichte”, “Geschichte der deutschen Literatur” u. a.)  zurückkommen: Sie sind an Sekundarstufenschüler und Erwachsene gerichtet. Sie sind leicht verständlich, nicht kompliziert geschrieben und relativ kurz. Hier tut sich – für mich zumindest – eine weitere Ihrer Begabungen auf: die Kunst der Reduktion. Sie schaffen es, eine Unmenge an Info-Material auf ein überschaubares Maß zu straffen. Mit der Folge, dass das Lesen kurzweilig und spannend wird, ohne dass man auf Wichtiges verzichten muss. Fantastisch!

Manfred Mai

Danke! Das habe ich tatsächlich schon öfter gehört, auch von Fachleuten, die ebenfalls an Geschichtsbüchern gearbeitet haben. Vielleicht ist das wirklich eine Fähigkeit. Warum ich die habe? Vielleicht weil wir Schwaben gewohnt sind, nicht so viele Worte zu machen.

Möglicherweise dringt hier auch das alte pädagogische Prinzip “Mut zur Lücke” durch. Man kann ja ohnehin nicht alles mitteilen.

Manchmal sitze ich allerdings schon auch da in dieser unendlichen Fülle an Fakten und denke, es ist vermessen und anmaßend, das so zu reduzieren. Aber wenn der Verlag auf keinen Fall mehr als 200 Seiten für das Buch will, so versuche ich es halt und ja, am Ende nach einem langen Prozess scheint es dann doch geklappt zu haben.

Antolin

Eine Frage aus dem Umfeld Ihres Buches “Geschichte der deutschen Literatur”, zu dem ich im Moment Quiz für Antolin erstelle: “Welche Person der deutschsprachigen Literaturgeschichte fasziniert Sie am meisten?”

Manfred Mai

Eine Person aus der Literaturgeschichte hat mich nicht nur fasziniert, sie hat mein Leben verändert: Wolfgang Borchert. Ohne ihn wäre ich heute nicht der Schriftsteller Manfred Mai.

Hierzu muss ich kurz etwas ausholen: Ich bin auf unserem Bauernhof bildungsfern aufgewachsen, wie man das heute nennt. Lesen betrachtete man damals – von Erwachsenenseite aus – als faulenzen.

Viel später bei der Bundeswehr kam ich auf unserer Stube mit einem jungen Mann zusammen, der selbst viel gelesen und mir aber auch vorgelesen hat. Darunter waren Borcherts Geschichten wie “Draußen vor der Tür”, Geschichten also, die exakt in die Nachkriegszeit passten und die mich zutiefst ansprachen. Ganz besonders auch die zwei Kurzgeschichten, die der Hauptgeschichte angehängt waren: “Das Brot” und “Die Küchenuhr”.

Ich las “Das Brot” und sah meine Mutter, meinen Vater mit völlig neuen Augen. Verstand auf einmal meine Mutter. Und das war zum ersten Mal, dass ich das Gefühl hatte, in einem Buch steht etwas, das mit mir zu tun hat. Ich glaube, ab da verstand ich auch mich selbst besser. Von da an wollte ich noch mehr solcher Art Geschichten lesen.

Antolin

Sie haben einmal gesagt, Sie möchten mit Ihren Büchern die Welt verändern. In welcher Richtung?

Manfred Mai

Ich möchte die Welt in dem Sinn verändern, dass sie besser wird. Dazu können Geschichten beitragen, davon bin ich jüberzeugt. Ich möchte Kindern die Augen öffnen für das, was um uns herum passiert. Damit sie wissen, was notwendigerweise zu tun ist. Das wird vermutlich immer wichtiger.

Ich arbeite gerade im Auftrag eines Verlages an einem Heft zum Thema “Demokratie” für die 1. und 2. Klasse. Hier soll ich auf sehr beschränktem Raum Geschichten erzählen, die dazu beitragen, die Demokratie zu verstehen und zu festigen. Ist nicht ganz einfach, aber sehr wichtig.

Mein erstes Buch (“Und brennt wie Feuer”) entstand übrigens aufgrund einer unangenehmen Erfahrung mit einem Schüler, der rechtsradikale Gedanken vertrat. Das war 1980. Schon damals ahnte und befürchtete ich, dass rechtsradikale Gedanken uns noch lange beschäftigen werden; misstraute dem allgemein verbreiteten Satz “Die alten Nazis sterben alle und dann ist das Thema erledigt.”

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Aus ihren Büchern lässt sich die Freude erschließen, die Sie im Umgang mit Kindern erlebten. Sie haben ja bereits über 150 Bücher geschrieben, weitaus die meisten für Schüler. Was ist das Geheimnis dieser Freude?

Manfred Mai

Ich mag Kinder, ich mag sie einfach. Mit Kindern umzugehen ist höchst interessant – und ich erfahre das mit unseren Enkeln zur Zeit neu. Für die bin ich so, wie ich gerade bin, genau richtig. Kinder gehen vorurteilslos und positiv in die Welt hinein – und das ist gut so. Diese Haltung wirkt auf mich zurück und hält mich jung und frisch.

Ähnlich erging es mir als Lehrer. Diese Nähe zu jungen Menschen ist schön und anregend. Immer wieder treffe ich einige von meinen ehemaligen Schülern bei Lesungen oder bei Klassentreffen. Nicht selten höre ich Sätze wie: “Was du uns vermittelt hast oder was du angeregt hast, das hat mein Leben berührt.” Oder: “Ohne dich wäre ich nicht diesen Weg gegangen.”

Deswegen höre ich mit dem Schreiben auch noch nicht auf. Ich bilde mir ein, mit meinen Büchern kann ich den jungen Leuten noch ein bisschen etwas geben.

Antolin

Sie haben einmal gesagt, dass man mit Schülern gut reden kann, wenn man es über Texte versucht, die beide Seiten ansprechen.

Manfred Mai

Als junger Lehrer hatte ich eine eher schwierige neunte Klasse. Irgendwann gab ich den Schülern so kleine Geschichten mit Szenen aus dem Leben der Klasse, ein bisschen verfremdet natürlich, zu lesen. Anschließend haben wir über diese Texte gesprochen und auch die darin enthaltenen Probleme intensiv diskutiert. Die Schüler haben schnell gemerkt, dass diese Sache ja mit ihnen zu tun hat. Und siehe da, das war immer ein fruchtbares Erlebnis für beide Seiten – und hat mitgeholfen, das Klassenklima zu verbessern.

Antolin

Sie sind nicht nur ein brillanter Geschichtenerzähler. Sie verfassen auch Gedichte. Wann haben Sie das Gefühl, ein Gedicht schreiben zu müssen?

Manfred Mai

Ich habe in letzter Zeit nur wenige Gedichte geschrieben. Ich komme gar nicht mehr dazu. Aber  Ideen hierfür habe ich mir notiert.

Wenn irgendeine Thematik in einem kribbelt, spürt man sehr schnell, ob sich diese für eine Geschichte oder ein Gedicht eignet.

Ich habe ja auch eine ganze Reihe Mundartgedichte geschrieben. Dabei rede ich dann immer wieder Schwäbisch vor mich hin – und höre, ob diese Worte, diese Sätze zu meiner Mundart passen. Das ist eher so ein Erspüren. Ist das eher für diese knappe Form der Darstellung (=Gedicht) geeignet oder brauche ich dafür mehr Platz (=Geschichte)?

Antolin

Ein Gedicht formulieren ist eine eher schwierige Angelegenheit, nicht wahr?

Manfred Mai

Auch wenn man am Ende bei einem Gedicht vielleicht nur vier, fünf, sechs Zeilen sieht, so steckt dennoch eine Menge Arbeit dahinter. Ein Gedicht machen hat mit “Basteln” zu tun. Hier arbeitet man mit Wörtern, mit Lauten, mit Sprache. Das mache ich immer wieder sehr gerne. Das kann dann schon einige Stunden, einen ganzen Tag und später noch mal einen Tag dauern. 

Antolin

Sie haben sich auch immer wieder mit Klassikern befasst und diese ebenfalls auf Grundschulniveau reduziert, damit sie auch für diese Klientel lesbar sind. “Gullivers Reisen”, “Die Abenteuer des Odysseus” und “Robin Hood” sind darunter. Was ist das Besondere an diesen Klassikern?

Manfred Mai

In jedem Klassiker steckt eigentlich immer eine menschliche Grunderfahrung, die jeden berührt. “Robinson” ist plötzlich allein und völlig auf sich gestellt. Wie schafft er es, zu überleben? In irgendeiner Form erleben auch heutige Menschen immer wieder solche Situationen und müssen darin bestehen.

Ich finde, diese Klassiker-Bücher sind es wert, dass Kinder sie kennen, schon allein der Grundideen dieser Geschichten wegen. Auch wenn die Originalbücher stark gekürzt sind,

bin ich fest davon überzeugt, dass diese Grunderfahrungen dennoch rüberkommen.

Ich wünsche jedem so ein Erweckungserlebnis, wie ich es mit Borchert erfahren durfte.

Antolin

Schaut man sich die lange Liste Ihrer Bücher an, so springt auf jeden Fall die Menge der Fußballbücher ins Auge. Ich gehe davon aus, dass Sie selbst Fußball gespielt haben?

Manfred Mai

Ich spiele Fußball, seit ich fünf Jahre alt bin. Mein Verein ist der FC Winterlingen, bei dem ich nun bald 70 Jahre Mitglied bin. Bis heute spiele ich jede Woche bei den “Dienstag-Kickern”. Da bin ich natürlich der Opa. Das ist klar. Die Jüngsten könnten meine Enkel sein. Aber ich bin da nicht der schlechteste 😉

Jungs tun sich oft ein bisschen schwerer mit dem Lesen als Mädchen. Aber mit Fußball kann man die Jungen zum Lesen verlocken. Fast 400.000 Bücher wurden allein von den “Leselöwen-Fußballgeschichten” verkauft. In den Bibliotheken wurden diese Bücher regelrecht zerlesen. Und was mir wichtig ist: In diesen Büchern geht es nicht nur um Fußball, hier wird viel Soziales mittransportiert.

Antolin

Bei welchem aktuellen Fußballspieler aus der Bundesliga fängt Ihr Herz zu jubeln an?

Manfred Mai

Obwohl ich Fan von VfB Stuttgart bin, jubelt mein Herz im Moment am allermeisten bei Florian Wirtz von Bayer 04 Leverkusen. Er ist ein Spieler der Extraklasse, der Fußballkunst vorführt.

Antolin

Zurück zur Literatur. Sie sind ja in jedem Genre der Kinder- und Jugendliteratur zu Hause, haben viele Kinderromane geschrieben, auch opulente Sachbücher, hier vor allem für die Sekundarstufe. Was liegt Ihnen mehr?

Manfred Mai

Ich kann das gar nicht werten. Für mich ist beides sehr wichtig.

Geschichten erzählen für die Kleineren ist einfach schön. Zum Sachbuch bin ich übrigens gekommen, als ich gemerkt habe, dass die Verlage immer mehr Bücher zu bestimmten Themen haben wollten- die oft nicht meine Themen waren. Als ehemaliger Geschichts- und Politiklehrer wusste ich, dass unseren Jugendlichen das Verständnis und auch ein bisschen die Freude an diesen Themen fehlt. Da dachte ich mir, man darf solche Bücher nicht wie ein Schulbuch schreiben. So kam ich zur Form des erzählenden Sachbuchs. Liest man ein solches Buch, hat man das Gefühl: Wow, es ist ja wie eine Geschichte und die ist sehr interessant.

Noch einmal: Mir sind die Schüler beider Schularten wichtig. Ich sehe mich gerne in der Rolle eines Leseförderers.

Antolin

Ist es für Sie wichtig, dass eine Geschichte aus einem realen Anlass heraus entstanden ist?

Manfred Mai

Das kann sein, aber es ist nicht wichtig. Eine Geschichte sollte aber zu tun haben mit unserer Welt, mit dem, was ist.

Antolin

Müssen Geschichten ein pädagogisches Ziel haben?

Manfred Mai

Nein, das “müssen” sie nicht. Derselben Meinung ist übrigens auch Astrid Lindgren.

Meine Geschichten haben zwar oft eine pädagogische Zielsetzung, aber es gibt auch tolle Geschichten, bei denen einfach Freude, Witz und Fantastereien im Mittelpunkt stehen. Das ist in Ordnung.

Antolin

Heutzutage findet man eine ganze Reihe neuer Bücher, bei denen Kinder als Weltretter fungieren. Ist das so okay?

Manfred Mai

Ich finde es gut, wenn Kinder für bestimmte Dinge aktiv werden können. Dass sie nicht warten müssen, bis sie groß sind. Man kann ihnen sagen: “Ihr könnt schon mithelfen, diese Welt zu verbessern.” Das versuche ich meinen Enkelkindern und in Büchern zu vermitteln. Aber die Problemfälle dürfen nicht zu groß sein. Wo Kinder in Gefahr geraten könnten, würde ich nicht mitmachen. Solche Bücher finde ich nicht gut.

Antolin

Herr Mai, ich bedanke mich für das Gespräch mit Ihnen.



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